Familiäre Vorgeschichte: Die Wolfsteins
Rosi Wolfsteins Familie mütterlicherseits, die Familie Adler, ist seit 1852 in Witten nachweisbar. Sie zogen zuvor aus dem pfälzischen Kusel in die Ruhrstadt. Ein Jahr zuvor war Clara Adler (1851–1931) dort als Tochter des Goldarbeiters Emanuel und der Rosa Adler, geb. Sulzbach, zur Welt gekommen. Im Jahr 1864 zogen Rosis Vater Samuel (1839–1901) und sein Bruder Sigismund Wolfstein, womöglich gemeinsam mit den Eltern Perle und Bertha Caroline Wolfstein, geb. Blum, von Körbecke im Kreis Warburg nach Witten an der Ruhr. Mit Samuel und Sigismund Wolfstein kamen zwei junge Juden aus dem ländlichen Westfalen ins Ruhrgebiet, das seit einiger Zeit wie ein Magnet für Arbeitssuchende wirkte. Doch wie sich bald zeigen sollte, würden weder die Brüder Wolfstein noch die Mehrheit der sonstigen Wittener Juden in den »spezifischen Erwerbsquellen des entstehenden Ruhrgebietes – der Montanindustrie –« nach einer Anstellung suchen. Denn »den meisten von ihnen gelang der wirtschaftliche Aufstieg in die Kaufmannsschicht«. Dies war eine Konsequenz jahrhundertelang andauernder Berufsverbote, zu denen im Besonderen das Handwerk zählte. Witten war eine überwiegend protestantische Stadt mit einer Gesellschaft, die politisch gesehen zum durchaus heterogenen (National-)Liberalismus tendierte. Am 27. Mai 1888 erblickte dort Rosalie, genannt Rosi, Wolfstein um ein Uhr mittags das Licht der Welt. Ihre Eltern waren der bereits erwähnte Kaufmann Samuel und seine Frau Clara Wolfstein. Sie war das dritte von insgesamt vier Kindern des Ehepaars. Ihr Bruder Paul Bernard wurde am 31. August 1885, ihre Schwestern Wilhelmine Gisella am 11. September 1886 und Bertha am 12. Januar 1891 geboren. In Körbecke und Warburg tauchten zeitgleich weitere Wolfsteins auf, die ebenfalls Träger der Vornamen Bertha, Paul, Rosi und Samuel waren. Aufgrund der Seltenheit des Familiennamens und der geografischen Nähe zum Herkunftsort Samuels ist eine direkte Verwandtschaft hier anzunehmen. Die Wolfsteins aus Bochum waren nachweislich Verwandte der Wittener. Bei der Geburt aller vier Kinder bewohnte die Familie das Haus Nr. 12 in der Wittener Poststraße. Samuels Bruder Sigismund wohnte fast nebenan, nämlich in der Poststraße 16. Doch noch im selben Jahr zog er nach Leipzig um, wo er in der Nordstraße 56 ein »Kohlengeschäft en gros« eröffnete. Ganz in der Nähe seines neuen Wohnortes lebte im Übrigen die Familie Frölich, damals noch in Neusellerhausen, einem Vorort der Großstadt, der aber am 1. Januar 1892 eingemeindet wurde. Es ist augenfällig, dass keines der Kinder im Hause Wolfstein einen biblischen Vornamen erhielt, Wilhelmine mutet sogar geradezu preußisch an. Dies ist sicherlich kein Zufall, hatte doch Jacob Ostwalds (1863–1910) paternalistische Prägung als Kantor der jüdischen Gemeinde großen Einfluss auf deren Mitglieder. So führte er in der Synagoge Deutsch als Liturgiesprache ein und empfahl den Gemeindemitgliedern, sich sprachlich, kleidungstechnisch und hinsichtlich äußerer Merkmale nicht als Juden zu erkennen zu geben. Dies hatte wiederum Auswirkungen auf die Namensgebung in den Familien. Samuel Wolfstein war praktizierendes Gemeindemitglied, mehr noch, von 1881 bis 1887 sogar stellvertretendes Vorstandsmitglied der Kultusgemeinde. Anschließend war er drei Jahre ohne Funktion, ehe er sich 1890 auf den Posten des Vorstands bewarb. Allerdings erhielt er nur vier Stimmen und wurde somit nicht gewählt. Ab 1892 gehörte er schließlich wieder in Stellvertretung dem Kultusvorstand an. In allen vier Geburtseinträgen seiner Kinder wird Samuel Wolfstein als »Kaufmann« aufgeführt, konkret arbeitete er für die Börse. Wie hoch die Courtage für seine Wertpapiertransaktionen war, ist nicht überliefert. Frank Ahland rechnete ihn zu den Besserverdienern Wittens, womit die gut situierte Mittelklasse gemeint ist. Er gehörte neben Samuel Buchthal, Ludwig Hanf und Ascher Löwenstein zu den vier der insgesamt 17 einkommensteuerpflichtigen Juden, die im neu erschlossenen Wittener »Hohenzollernviertel« ein Haus kaufen konnten. Das imposante Gebäude der Wolfsteins lag in der Nordstraße 12 in Witten, in dem die sechsköpfige Familie ab 1891 lebte. Welche Geldsumme die Familie für die Immobilie entrichten musste, ist nicht überliefert, jedoch zeigt sie eindeutig, dass es an Geld zunächst nicht mangelte. So verbrachte Rosi Wolfstein zuerst eine auf Wohlstand basierte, stabile Kindheit, die sich von derjenigen Paul Frölichs (ihres späteren Ehemanns) diametral unterschied. Clara Wolfstein war ebenfalls berufstätig; sie gab Musikunterricht. Einen weiteren Hinweis auf die finanziell stabile Lage der Familie liefert die Tatsache, dass das Ehepaar Wolfstein eine Haushälterin zur Entlastung einstellen konnte. Frau Winkelmann kümmerte sich also um die Mahlzeiten, die Reinigung der Wäsche und die allgemeine Ordnung innerhalb des Hauses. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine zusätzliche erwachsene Person in einem Haushalt auch einige Prägung auf dessen Kinder hatte, wie sich an Rosi Wolfsteins Berufswahl noch zeigen würde.
Quelle: Riccardo Altieri »Antifaschisten, das waren wir …« Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Eine Doppelbiografie,
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